Bundesverfassungsgericht kippt Reform des strafprozessualen Wiederaufnahmerechts
aus dem Jahr 2021
Einer der wichtigsten und ältesten Rechtsgrundsätze im deutschen Strafprozess lautet „ne bis in idem“, was aus dem Lateinischen übersetzt „nicht zweimal für dasselbe“ bedeutet und in der Fachsprache auch „Strafklageverbrauch“ oder „Verbot der Doppelbestrafung“ genannt wird. Dieses verfahrensrechtliche Grundrecht der „Einmaligkeit der Strafverfolgung“ bedeutet, dass eine Person nicht mehrmals für dieselbe Tat strafrechtlich verfolgt werden darf (Art. 103 Absatz 3 Grundgesetz).
Ist jemand in einem Strafverfahren einmal rechtskräftig – also ggf. nach Ausnutzen aller Rechtsmittel – freigesprochen worden, ist eine Durchbrechung dieses Grundsatzes und ein neuer Prozess wegen der derselben Tat, also eine sog. Wiederaufnahme des Strafverfahrens nur in wenigen gesetzlich geregelten Ausnahmefällen möglich, etwa wenn eine freigesprochene Person nach rechtskräftigem Freispruch ein (glaubwürdiges) Geständnis abgelegt hat oder eine zu seinen Gunsten vorgelegte Urkunde unecht oder gefälscht war.
Reform des Wideraufnahmerechts im Strafverfahren im Jahr 2021
Im Jahr 2021 lockerte der Gesetzgeber die Wiederaufnahmeregeln. Fortan war nach § 362 Nummer 5 Strafprozessordnung die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zulasten eines rechtskräftig Freigesprochenen auch wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel zulässig.
Diese Reform war von Anfang an heftig umstritten.
Bundesverfassungsgericht erklärt die Reform des Wiederaufnahmerechts aus 2021
nun für verfassungswidrig
Das BVerfG hat in einem aufsehenerregenden Urteil vom 31.10.2023 diese Reform gekippt und für verfassungswidrig und nicht erklärt (BVerfG, Urteil v. 31.10.2023- 2 BvR 900/22).
Hintergrund der Entscheidung
Hintergrund der Entscheidung ist ein über 40 Jahre alter Kriminalfall, bei der eine damals 17-jährige junge Frau ermordet wurde. Der damalige Tatverdächtige wurde im Jahre 1983 vom Vorwurf des Mordes rechtskräftig freigesprochen.
Einige Jahrzehnte später hatte sich die Kriminaltechnik revolutioniert und es wurde eine neue DNA-Analyse durchgeführt. Die hierdurch gewonnenen DNA-Spuren führten zurück zu dem damals Freigesprochenen. Dieser Fall führte auch zu der Reform des Wiederaufnahmerechts im Jahre 2021. Auf der Grundlage dieser gelockerten Wiederaufnahmeregelungen wurde dann im Jahr 2022 ein neues Strafverfahren gegen den Freigesprochenen eingeleitet, wogegen sich dieser letztlich mit der Verfassungsbeschwerde zur Wehr setzte und über die nun das Bundesverfassungsgericht entschieden hat.
Rechtssicherheit geht vor Gerechtigkeit
Das Bundesverfassungsgericht hat nun entschieden, dass die im Jahre 2021 geschaffene neue Regelung, nach der eine Wiederaufnahme zuungunsten eines Freigesprochenen auch bei neuen Tatsachen oder Beweisen zulässig war (§ 362 Nr. 5 Strafprozessordnung), verfassungswidrig und nichtig ist.
Es begründet dies im Kern damit, dass das Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz eine „Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materiellen Gerechtigkeit“ treffe. Diese Vorrangentscheidung sei „abwägungsfest“ und lasse dem Gesetzgeber bei der Regelung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens „keinen Spielraum“.
Keine Erforschung der Wahrheit um jeden Preis
Das Bundesverfassungsgericht betont, dass jedes Strafverfahren eine „erhebliche Belastung für den Einzelnen“ darstelle, der man wegen desselben Sachverhaltes „nur einmal ausgesetzt sein“ solle. Das Mehrfachverfolgungsverbot diene letztlich der „Freiheit und der Menschenwürde“ des einzelnen Betroffenen und verhindere, dass dieser zum „bloßen Objekt“ der Wahrheitsermittlung herabgestuft werde. Das Bundesverfassungsgericht hebt aber auch hervor, dass das Mehrfachverfolgungsverbot auch den Interessen der Gesellschaft diene, die ein Bedürfnis „an einer endgültigen Feststellung der Rechtslage“, also an „Rechtsfrieden“ habe.
Das Strafrecht gebiete „keine Erforschung der Wahrheit um jeden Preis“.